Kapital2

1006 Words
Kapitel 2 Selenes Sicht Ich saß in der Ecke und zog die Knie an die Brust. Meine Handgelenke schmerzten von den eisernen Fesseln. Die Stille war drückend, bis sie vom Tropfen von Wasser von der Decke unterbrochen wurde. Ich versuchte, nicht zu denken, aber wenn der Körper nicht aktiv ist, beginnt mein Geist von selbst zu arbeiten und zwingt schmerzhafte Erinnerungen in mir auf. Ich hatte in einer Nacht alles verloren: mein Rudel, meine Familie, meinen Gefährten. Meine Eltern hatten mich nie geliebt, sie hatten nicht einmal so getan, als ob. Ihr Ekel vor mir war so offensichtlich. Für sie war ich der Fehler der schwächeren Tochter, diejenige, die nie dazugehörte. Lila war die Auserwählte, perfekt geboren, von allen verehrt. Vater hatte sie zur Anführerin ausgebildet, während mir gesagt wurde, ich solle still sein, mich klein machen, mich verstecken. Wenn ich sprach, schimpfte Mutter mit mir, weil ich undankbar klang. Wenn ich weinte, sagte Vater, ich würde ihn blamieren. Also lernte ich zu schweigen. Nur Caleb gab mir jemals das Gefühl, gesehen und geliebt zu werden. Er war der Sohn des Alphas, sehr stark, selbstbewusst, immer von anderen umgeben. Früher dachte ich, er sei gütig. Früher dachte ich, er sähe mich so, wie ich war, nicht so, wie ich nicht war. Als der Himmel ihn als meinen Gefährten auserwählte, dachte ich, vielleicht würde sich mein Leben endlich ändern, aber der Himmel musste grausam gewesen sein. Nur wenige Stunden später zerbrach alles. Ich ging in dieser Nacht zu ihm. Die Tür zu seinen Gemächern war halb offen, sein Licht brannte noch, da hörte ich Lilas Stimme. Sie lachte. Mir zog sich der Magen zusammen. Ich stieß die Tür auf, und da waren sie. Beide waren nackt. Calebs Hände lagen an ihrer Taille. Ihre Lippen berührten seinen Hals, ihre Düfte vermischten sich, und die Verbindung, die uns hätte heilig sein sollen, brannte in mir. „Caleb?“, fragte ich mit versagter Stimme. Beide erstarrten, sprangen auf und hüllten sich in Kleidung. Lila wandte sich mir zu, ihre Stimme war ruhig. „Oh, Schwester, hat dir denn niemand beigebracht anzuklopfen?“ „Geh weg von ihm!“, sagte ich mit lauter werdender Stimme. „Nein“, entgegnete sie. Ich sah Caleb an. „Sag doch was.“ Er schwieg, stand nur da, sein Blick huschte zwischen uns hin und her, voller Panik und Scham. „Sag mir, dass du es nicht wusstest“, flüsterte ich mit zitternder Stimme. Lila lächelte. „Er wusste es, es war ihm nur egal“, sagte sie mit giftiger Stimme. „Lila, hör auf“, sagte Caleb schließlich leise. Aber Selene redete weiter. „Er will dich nicht, Selene, du bist schwach, du bist nichts.“ Ihre Worte trafen mich härter als erwartet, meine Hand bewegte sich wie von selbst und dann schlug ich ihr ins Gesicht – der Knall hallte durch den Raum. Ihre Augen verfinsterten sich, und sie trat in Kampfstellung auf mich zu, doch Caleb hielt sie auf und stellte sich zwischen uns. „Genug“, sagte er. „Du verteidigst sie?“, zischte Lila. „Ich versuche, das wieder in Ordnung zu bringen.“ „In Ordnung bringen?“, wiederholte ich wütend. „Es gibt nichts wieder in Ordnung zu bringen. Du hast das Band gebrochen.“ „Du verstehst es nicht. Wenn das herauskommt, wird es alles zerstören“, sagte er mit tiefer, bedrohlicher Stimme. „Das ist mir egal! Du bist meine Gefährtin!“, rief ich. „Nicht mehr“, sagte er leise. Er trat hinaus und rief die Wachen. „Verhaftet sie!“ Ich erstarrte. „Was?“ „Sie ist eine Verräterin. Sie hat sich mit Schurken getroffen, die ich gesehen habe.“ „Das ist eine Lüge!“ Lila verschränkte die Arme und lächelte, als wäre es ein Spiel. „Arme Selene, immer das Opfer.“ „Tut es!“, befahl er, und sie hoben ihre Waffen. „Caleb, bitte!“, flehte ich. „Ich kann nicht zulassen, dass du alles zerstörst, was ich aufgebaut habe“, sagte er kalt. Bevor ich antworten konnte, traf mich die erste Kugel an der Schulter. Die zweite Kugel wollte mich treffen, aber ich rannte hinaus. „Findet sie! Macht sie fertig!“, hörte ich Lila schreien. Ich rannte, bis ich hier angekettet landete und auf einen Tod wartete, den ich nicht verdient hatte. Schritte rissen mich aus meinen Gedanken. Die Tür öffnete sich, und zwei Wachen traten ein. „Steht auf!“, sagte einer von ihnen. „Warum?“, fragte ich mit heiserer Stimme. „Alphas Befehl.“ Mir wurde übel, als sie mich aus der Zelle in einen schmalen Flur zerrten. Meine Beine zitterten am ganzen Körper, jeder Schritt jagte mir einen Schmerz durch den Körper. Als wir die Haupthalle erreichten, sah ich ihn. Damon stand am Fenster, groß und breitschultrig. Die Wachen schoben mich vorwärts. „Alpha“, sagte einer von ihnen, „sie ist hier.“ Damon drehte sich um, und für einen Moment herrschte Stille. Seine Augen ruhten auf mir. Und dann spürte ich es. Die Luft veränderte sich plötzlich, mein Herz setzte einen Schlag aus. Und dann traf es mich wie ein Schlag. Eine Welle von Hitze und ein Kribbeln durchfluteten meinen ganzen Körper. Meine Knie wurden taub, und ich rang nach Luft. Mein Wolf schrie in meinem Kopf ein einziges Wort: Gefährte. Nein, nein, das darf nicht wahr sein. Damons Kiefer verkrampfte sich, er kam näher, seine Augen verdunkelten sich vor Wut. Auch er spürte es. Sein Atem ging unregelmäßig, und er ballte die Fäuste, um seine Wut zu bändigen. Die Seelenbindung raste ein. Er starrte mich lange an, Wut brannte hinter der ruhigen Miene, die er verbarg. Ich wusste, was er dachte: Das Schicksal hatte ihn an einen Feind gebunden, an dasselbe Blut, das er verachtete. Ich wich ungläubig einen Schritt zurück. „Nein …“ Damons Augen verfinsterten sich. „Der Himmel verspottet mich wohl.“ Damon war mein zweiter Versuch.
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