Kokos Sicht
Wieder einmal spielte mir die Mondgöttin einen grausamen Streich. Das Leben schürte meine Hoffnungen, nur um sie dann brutal zu zerschmettern. Wäre es nicht besser gewesen, überhaupt keine Hoffnung zu haben?
An jenem verhängnisvollen Tag, als ich zusammen mit meiner Schwester und vielen unserer Altersgenossen sechzehn wurde, warteten wir alle sehnsüchtig auf unsere Wölfe. Die Vorfreude auf die Lykanthropie-Zeremonie erfüllte uns. Jeder war voller Hoffnung, sogar ich.
In unserem Rotmond-Rudel verwandelten wir uns im Alter von sechzehn Jahren und fanden meist mit achtzehn unsere Gefährten. Du kannst dir also vorstellen, wie sehr ich mich auf diese Zeremonie freute.
Doch an jenem schicksalhaften Abend, unter dem blutroten Vollmond, sah ich hilflos zu, wie sich meine Schwester und all unsere Altersgenossen in ihre Wölfe verwandelten.
Ich wartete auf meinen Wolf... ich wartete und schämte mich.
Mein Wolf erschien nicht. Es war eine herzzerreißende Erfahrung, und mit gesenktem Kopf schleppte ich mich nach Hause, während mir Tränen über das Gesicht liefen. Was hatte ich getan, um solch ein Schicksal zu verdienen?
Wie erwartet, stand Donna an der Tür, um meine Schwester zu begrüßen und mich mit ihren endlosen Beleidigungen zu überschütten. Als hätte ihr die Göttin das Recht dazu verliehen, mich unaufhörlich zu quälen.
„Ich wusste es schon immer – du bist verflucht! Das ist der Beweis. Wenn du kein böses Kind wärst, hättest du dich wie die anderen verwandelt. Dies ist deine Strafe für den Tod deines Vaters.“ Sie spuckte mich an, bevor sie mich im Keller einsperrte.
Es war mir egal... Ich fühlte mich verlassen, verletzt und erfüllt von Bitterkeit, aber ich hatte keine Wahl. Ich hatte keinen Ort, wohin ich gehen konnte. Drei Tage verbrachte ich in der Dunkelheit, ohne Essen und Trinken, bevor sie mich schließlich freiließ.
Sechs Monate später verwandelte ich mich endlich in meinen Wolf. Sollte ich jetzt glücklich sein? Es hätte ein Moment des Triumphs sein sollen, doch stattdessen brachte es nur noch mehr Schande über mich.
Wie üblich klebte das Unglück an mir. Mein Wolf war kein richtiger Wolf, sondern glich eher einem Ziegenbock! Klein und schwach, mit einem blassen Braunton – das war meine Gestalt. Und er sprach nie zu mir. Vielleicht, weil wir beide gleichermaßen verflucht waren, wie meine Mutter es stets behauptete.
Wieder einmal wurde ich zur Zielscheibe des Spottes im gesamten Rudel. Jeder, der wollte, schikanierte mich nach Belieben. Denn es war nun klar, dass mein Wolf so schwach war, dass ich in jedem Kampf gnadenlos zermalmt würde.
„Schwach und erbärmlich! Warum bist du überhaupt noch am Leben?“ spuckte meine Mutter an einem schicksalhaften Tag aus.
Die Bitterkeit in mir ließ mich aufbegehren: „Bist du wirklich meine Mutter? Warum hasst du mich so sehr? Warum!“
„Wie kannst du es wagen, mich anzuschreien, du wertloses Ziegenwesen! Du bist eine Ziege! Deshalb hast du auch eine Ziege anstatt eines Wolfs…“
„Mutter!“
„Nenn mich nicht Mutter, nachdem du deinen Vater getötet hast! Du bist ein Fluch und eine Schande! Morgen früh schicke ich dich in den Palast!“
Sie begann, mich anzuschreien, und ich schämte mich so sehr, dass ich in den Wald gegenüber unserem Haus rannte.
Dort angekommen, brach ich in lautes Schluchzen aus. Ich wusste, dass mich niemand hören würde, also ließ ich den ganzen angestauten Schmerz heraus. Die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, flossen nun unaufhaltsam.
„Geht es dir gut, junge Dame?“ hörte ich eine Stimme hinter mir. Sein Duft war einzigartig und erfrischend, wie das Wasser eines klaren Bergquells.
„Ich... ich bin in Ordnung. Ich habe nur etwas in den Augen.“ log ich schnell und senkte den Kopf. Sein Duft war mir fremd, also wusste ich, dass er nicht aus meinem Rudel stammte.
„Etwas in den Augen und dabei so laut weinen?“
„Mir geht es gut. Es brennt... deshalb weine ich, in der Hoffnung, dass die Tränen helfen.“ Ich log erneut, diesmal viel zu offensichtlich.
Er lachte leise, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Dieses Lachen... es erinnerte mich an die Nacht, als ich mich verlaufen hatte. Ich wollte meinen Kopf heben, wagte es aber nicht.
„Heb deinen Kopf, damit ich dich sehen kann.“ befahl die Stimme.
„Ich kann nicht,“ antwortete ich schwach.
„Du kannst nicht?“ fragte er nach.
Bevor ich etwas sagen konnte, stand er bereits vor mir. Sanft hob er mein Kinn und betrachtete mein Gesicht. Ich wollte meine Augen schließen, aber irgendwie konnte ich es nicht.
„Versteckst du dieses Gesicht? Hast du Angst, weil du anders bist?“ fragte er.
Zu meiner Überraschung schien ihn mein Aussehen nicht abzustoßen.
Dann hörte ich ihn sagen: „Du bist anders, weil du einzigartig bist. Die Mondgöttin wird dir jemanden schicken, der dich wertschätzen wird. Gib die Hoffnung nicht auf.“
Diese Worte kamen mir seltsam vertraut vor. In jener Nacht war es zu dunkel gewesen, um das Gesicht des Jungen klar zu erkennen. Könnte er es sein?
In meinen Gedanken verloren, bemerkte ich nicht, wann er gegangen war. Wohin war er verschwunden? Ich hatte nicht einmal nach seinem Namen fragen können!
Trotz meiner Enttäuschung hielt ich mich an seine Worte und setzte mein Vertrauen in die Mondgöttin, dass sie mir eines Tages jemanden schicken würde, der mich wertschätzt.
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Mit jedem vergehenden Tag hielt ich an dieser Hoffnung fest – genau wie er es mir gesagt hatte. Ich machte es mir zur Gewohnheit, an das Gute zu glauben, das vielleicht noch kommen würde. Es war das Einzige, was mich am Leben hielt.
Obwohl ich oft niedergeschlagen war, war ich dennoch eine optimistische Person. Ich glaubte an das Schicksal und die Mondgöttin, auch wenn sie mich immer wieder enttäuscht hatte.
So klammerte ich mich an eine weitere Hoffnung. Ich beschloss, den Worten dieses Fremden Glauben zu schenken. Ich glaubte daran, dass sich alles zum Guten wenden würde. Es gab einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Mein Gefährte.
Ich glaubte fest daran, dass ich meinen Gefährten finden würde, sobald ich achtzehn wurde.
Er würde mich lieben, er würde mein Freund sein. Mein Gefährte würde mich beschützen und für mich einstehen, wenn ich schikaniert wurde. Er würde mich so verteidigen, wie es männliche Gefährten tun sollten, und niemand würde mir mehr wehtun.
Ich glaubte, dass mein Gefährte mich von meiner Mutter und meiner Schwester wegbringen würde. Er würde mich bei sich behalten, mich pflegen und beschützen, und ich müsste mir nie wieder Sorgen um irgendetwas machen.
Das war meine Hoffnung. Die Hoffnung, die mich über Wasser hielt, bis ich ihn endlich treffen würde. Ich glaubte fest daran, dass er mich lieben würde, trotz allem.
Ich hätte lernen sollen, dass es sinnlos ist zu hoffen. Ich hätte aus dem Vorfall mit meinem Wolf lernen sollen, aber dennoch klammerte ich mich an dieses winzige Fünkchen Hoffnung. Es war vergeblich, auf die sogenannte Mondgöttin zu hoffen, der ich trotz all des Unglücks vertraute.
Die Mondgöttin war immer grausam zu mir gewesen, ich war sicher, dass sie mich ebenso hasste. Ich hätte das verstehen und nichts von ihr erwarten sollen.
Doch das tat ich nicht. Ich erlaubte mir zu glauben, dass ich nach all dem, was ich durchgemacht hatte, ein glückliches Ende verdient hätte.
Aber ich lag falsch. Meinen Gefährten zu finden war nicht mein glückliches Ende, sondern der Beginn meines wahren Leidens. Es war der Beginn des wirklichen Schmerzes, und in diesem Moment würde ich erkennen, dass die Qualen all dieser Jahre nur ein Vorgeschmack waren.
Es war der Anfang eines niemals endenden Leidens.