Kapitel Sechs

971 Words
Mayas Sicht Am Morgen nach dem Bankett pochte mein Kopf von der Mischung aus Alkohol und rohen Emotionen. Doch der Schmerz war nicht nur körperlich, er saß tiefer und brannte in mir wie ein Brandmal. Wie mein Vater mir alles genommen hatte, wie Silver mich mit diesem kalten, undurchschaubaren Blick angesehen hatte, und der Fremde an der Tür, Lukas – seine Worte hallten noch immer in meinem Kopf wider: „Schön, dich endlich kennenzulernen, Frau.“ Frau? Was zum Teufel meinte er damit? Ich presste meine Handfläche an meine Schläfe und versuchte, den Nebel abzuschütteln, der sich hartnäckig in meinen Gedanken festklammerte. Ohne Antworten konnte ich den Tag unmöglich bewältigen. Aber noch wichtiger war es, mich zu schützen. Als ich eintrat, ragte das Brooks Mansion wie ein dunkler Wächter vor mir auf. Die Luft war voller Spannung, das übliche Summen geschäftiger Betriebsamkeit war einer beklemmenden Stille gewichen. Silver saß in der großen Halle, den Blick auf den Kamin gerichtet, als wollte sie, dass die Flammen sie ganz verschlangen. „Ich bin da“, sagte ich leise. Sie drehte sich um, ihr Gesichtsausdruck war reserviert. „Hast du gut geschlafen?“ Ihre Stimme klang kühl, aber mit einem Hauch von Besorgnis. Ich kniff die Augen zusammen. „Spiel nicht mit mir, Silver. Wer war dieser Mann letzte Nacht? Was will er?“ Silver senkte den Blick. „Lukas Thorn.“ Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Der CEO? Die Thorn Corporation?“ Sie nickte. „Er ist der Rivale deines Vaters. Und … anscheinend jetzt dein Ehemann.“ Das Wort hallte in meinem Kopf wider wie ein verquerer Witz. Ehemann. Ein Fremder, der mit einer Behauptung in mein Leben geworfen wurde, die ich nicht verstand. „Warum sollte er das sagen?“, fragte ich und trat näher. Silver zögerte. „Es gibt Dinge über deine Familie, die du nicht weißt, Maya. Geheimnisse, vor denen deine Mutter dich zu beschützen versuchte. Lukas ist nicht nur ein Rivale, er ist auf eine Weise mit dir verbunden, die du nicht verstehst.“ Ich ballte die Fäuste. „Dann fang an zu reden.“ Sie seufzte und sah mir endlich in die Augen. „Deine Mutter … Lilith Brooks war nicht nur die Frau von Adam Brooks. Sie stammte aus der Familie Thorn. Lukas‘ Familie.“ Der Raum drehte sich. Meine Mutter … eine Thorn? Die Halskette, der silberne Pferdeschwanzanhänger, ihr letztes Geschenk, ergab plötzlich einen Sinn. Es war nicht nur Schmuck. Es war ein Symbol, ein Schlüssel zu einem Erbe, von dem ich nie wusste, dass es mir gehörte. „Warum hast du es mir nicht erzählt?“, flüsterte ich. „Weil dein Vater es geheim halten wollte. Weil die Brooks und Thorns eine lange Geschichte der Rivalität und des Verrats haben. Weil die Wahrheit dich hätte zerstören können.“ Ich ging im Zimmer auf und ab und versuchte zu Atem zu kommen. Alles, was ich zu wissen glaubte, löste sich vor meinen Augen auf. Und mittendrin war Lukas, der Mann, der behauptete, mein Ehemann zu sein, der in meinem schwächsten Moment auftauchte und Teile einer Vergangenheit in sich trug, die ich gerade erst zu verstehen begann. Ein plötzliches Klopfen an der Tür riss mich zurück. „Ms. Brooks, ein Paket ist für Sie angekommen.“ Der Lieferant reichte mir ein kleines, unbeschriftetes Paket. Kein Absender. Meine Finger zitterten, als ich es öffnete. Darin lag ein zarter silberner Schlüssel, eingraviert mit dem gleichen Pferdeschwanzmuster wie mein Anhänger. Darunter steckte ein gefalteter Zettel, geschrieben in vertrauter Handschrift: „Die Wahrheit liegt unter der Oberfläche. Finde den Safe. Dein Vater wird nicht aufhören, bis er ihn hat. Traue niemandem.“ Mir stockte der Atem. Welcher Safe? Und was wollte mein Vater so sehr, dass es mich, das Erbe meiner Mutter und nun diesen mysteriösen Schlüssel betraf? Plötzlich summte mein Telefon. Eine neue Nachricht von derselben unbekannten Nummer, die mir zuvor die kryptischen SMS geschickt hatte: Serpent_157: „Sie beobachten dich. Geh jetzt, wenn du überleben willst.“ Ich knallte die Kiste zu und sah mich im Haus um. Plötzlich fühlte es sich an, als würden die Wände näher kommen. Silver beobachtete mich aufmerksam. „Du musst vorsichtig sein, Maya. Die Männer deines Vaters werden alles tun, um den Schlüssel zurückzubekommen.“ Ich schluckte schwer. Meine Welt drehte sich nicht mehr nur um Schmuckdesigns und gestohlene Träume. Es war ein gefährliches Spiel, und ich war mittendrin. Später in der Nacht war es im Herrenhaus still, aber mein Instinkt schrie nach Gefahr. Ich schlich durch die schwach beleuchteten Flure, den Schlüssel fest in der Hand. Ich musste den Safe finden, um die Geheimnisse meiner Mutter zu lüften. Das alte Arbeitszimmer war meine erste Station. Das Lieblingszimmer meines Vaters, voller Bücher, Akten und verschlossener Schubladen. Ich ließ meinen Blick über die Wände schweifen, und mein Blick fiel auf ein kunstvolles Gemälde, das ein wunderschönes Pferd zeigte, das sich vor einem stürmischen Himmel aufbäumte. Vorsichtig hob ich den Rahmen an. Dahinter war ein kleiner Safe in die Wand eingelassen, dessen Schloss genau die Form des Anhängers und des Schlüssels hatte, die ich jetzt in der Hand hielt. Mein Herz hämmerte wie wild. Das war es. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Klick. Die Safetür knarrte auf und gab den Blick auf einen Stapel Ordner und einen mit Wachs versiegelten Umschlag frei. Meine Hände zitterten, als ich den Umschlag herauszog. Die Handschrift meiner Mutter starrte mich an. „Für Maya, meine Tochter. Wenn du das liest, bedeutet das, dass du die Wahrheit gefunden hast. Dein Leben ist in Gefahr, aber dein Erbe ist wichtiger, als du denkst. Vertraue niemandem außer dir selbst.“ Ein Geräusch hinter mir ließ mich erstarren. Schritte. Schwer, zielstrebig. Ich wirbelte herum, als die Tür des Arbeitszimmers zuschlug. Eine dunkle Silhouette füllte den Türrahmen. „Suchst du etwas, Maya?“
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