„Es ist unvorstellbar, aber ich bin ziemlich überrascht. Ich muss ehrlich zugeben, ich hätte nicht gedacht, dass das neue Medikament so gut anschlägt!", verkündete John seine Meinung.
Meine ganze Familie strahlte.
Ich jedoch versuchte mir nichts anmerken zu lassen. John konnte immernoch mit einem 'aber' kommen und schon war die Hoffnung wieder futsch.
„Nati, du darfst dich freuen! Denn du kannst somit offiziell auf eine richtige High School!", brachte John es somit auf den Punkt.
Meine Familie jubelte und fiel mir um den Hals. Ich jedoch stand noch in Schockstarre. Ich durfte zur Schule? Auf eine richtige Schule mit anderen Jugendlichen? Wo es Nerds, Cherleader, Footballspieler, Badboys, Schulbitches, Freaks und noch viele mehr gab? Zusammen mit meinen Brüdern?
Ich merkte gar nicht, dass meine Familie mich überrascht und besorgt anschaute. Mum kam auf mich zu und wischte mir meine Tränen weg. Ich weinte? Aber warum? Ich hatte doch endlich die Möglichkeit das zu tun, was ich schon immer wollte: normal sein. Also warum weinte ich jetzt? Und was war das für eine wohlige wärme in mir? Weshalb fühlte ich mich, als könnte ich einen Maratohn laufen? Warum hatte ich das Gefühl zu fliegen?
Nach einer Weile begriff ich endlich, was wirklich los war. Ich erwachte aus meiner Schockstarre und schlug mir die Hände vor den Mund und begann zu schluchzen. Denn als ich endlich verstand, was das für ein Gefühl war, das ich gerade mehr fühlte, als sonst etwas, traf mich fast der Schlag.
Ich war glücklich.
Ich, Natalia Ocean, das todkranke Mädchen, war glücklich, verdammt!
„Hey Prinzessin. Nicht weinen! Das wolltest du doch immer?", Meik kam auf mich zu, und schlang seine Arme um meinen kleinen Oberkörper und sein Versuch mich zu trösten, obwohl ich ja eigentlich keinen Trost brauchte, klang eher wie eine Frage, als wie eine Feststellung. Ich drückte ihn von mir Weg und sah ihm in die Augen.
„Ich kann auf die High School", brachte ich unter meinen Schluchzern hervor und Meik nickte, was mich noch glücklicher machte.
Ich sah jeden, der sich im Raum befand intensiv an.
„Ich. Werde. Auf. Die. High. School. Gehen!"
Ich betonte jedes Wort, um mir über dessen Bedeutung noch klarer zu werden.
Ich sah zu meiner Mum und zu Dad, die mich ziemlich besorgt musterten und fiel ihnen um den Hals. Meine Tränen flossen noch immer.
„Ich werde normal sein!", schluchzte ich. Ich wollte aufhören, und meiner Familie zeigen, wie glücklich ich doch war. Ich war nicht traurig. Warum also weinte ich?
Ich fiel meinen Brüdern um den Hals, meiner Schwester und zum Schluss sogar noch John.
Meine Tränen wollten einfach nicht dort bleiben, wo sie hingehörten, nämlich in meine Augen.
Ich trat einige Schritte zurück und dann lachte ich. Es war nicht dieses erzwungene Lachen, das ich sonst immer von mir gab, sondern ein ehrliches und glückliches Lachen! Ich war so unendlich glücklich und ich hatte das Gefühl die ganze Welt umarmen zu können.
Alle sollten es erfahren.
Ich begann herumzuhüpfen und mich im Kreis zu drehen.
Meine Brüder strahlten und meine Eltern und Atlanta wussten wohl nicht so recht, wie sie meine Reaktion deuten sollten.
Aiden kam auf mich zu und zog mich noch einmal in eine Umarmung, die ich etwa dreimal so fest erwiderte. Dann kamen die anderen Jungs auch noch dazu und Meik zog meine Eltern und Atlanta mit. So entstand die wunderschönste Gruppenumarmung, die ich jemals erlebte und meine Hochgefühl verschwand auch nicht. Ich hätte noch den ganzen Tag so dastehen können. Doch irgend einmal löste sich unser kleiner Familienhaufen auf.
Alle sahen mich lächelnd an und zum ersten mal seit eineinhalb Jahren lächelte ich zurück. Ich wusste wieder wie es ist zu hoffen, und ich war fest entschlossen diese Hoffnung, die sich zusammen mit meinem Hochgefühl in mir ausbreitete, nicht so schnell wieder aufzugeben.
„Du kannst schon ab nächste Woche auf die High School. Wenn du willst natürlich", sagte John.
„Ja! Natürlich will ich!", sagte ich schnell.
Mein Arzt lächelte.
„Na schön, dann werde ich mich zusammen mit deinem Privatlehrer darum kümmern", sagte er und verliess mein Zimmer.
Ich grinste jetzt schon fast, als ich meine Familie anschaute. Dann überkam mich eine tiefe Traurigkeit. - War ja klar, dass mein Hochgefühl so schnell wieder verschwand, wie ich es bekommen hatte -.
Denn als ich so meine Familie betrachtete, fiel mir wieder ein, dass Mason ja fehlte. Er hatte tatsächlich den wahrscheinlich besten Tag meines armseligen Lebens verpasst, obwohl er mir fest versprochen hatte immer bei mir zu sein und jede einzelne Lebenswendung miterlebte. Er hatte gerade sein Versprechen gebrochen. Erstaunlicherweise machte mich das ziemlich wütend und das schien Meik zu merken.
„Was ist los, Nati?", fragte er.
„Mason hat gerade sein Versprechen gebrochen, das er mir vor etwa zehn Jahren gegeben hatte", antwortete ich kalt.
„Ich weiss, dass er dir versprochen hat immer bei dir zu sein, aber die letzte Woche konnte er dich einfach nicht besuchen", mischte sich meine Mum ein, nachdem Meik ihr ganz offensichtlich einen hilfesuchenden Blick zu warf.
„Und wieso konnte er nicht dasein? Er hat einfach so eine der schrecklichsten Wochen meines Lebens und bis jetzt den besten Tag meines Lebens verpasst!"
„Das kann ich dir nicht sagen", meinte meine Mum.
Ich sah sie einfach nur fassungslos an. Dann betrachtete ich jeden einzelnen das gefühlte 100. Mal und sie alle wichen einfach nur meinen Blicken aus, indem sie auf den Boden oder aus dem Fenster schauten. Nur Atlanta sah mir mitleidig direkt in die Augen. Doch sie machte keinerlei Anstalten mir etwas zu erklären. Sie schien mir mit ihrem durchdringlichen Blick sogar sagen zu wollen:'Von mir erfähst du kein Wort.' Oder so etwas in der Art.
Ich komnte es nicht glauben! Meine eigene Familie verschwieg mir ganz offensichtlich etwas entscheidendes!
„Na gut", murmete ich,„Wenn ihr mir nicht sagen wollt, was los ist, - denn ich weiss genau, dass da was ist, ich seh es euch allen an -, dann verschwindet jetzt."
Dann trat ich ans Fenster und blickte gedankenverloren heraus. Ich sah auf den riesengrossen Park herunter, wo ich im Sommer immer meine Hausaufgaben machte, Gitarre spielte und Songs lernte oder gar schrieb und komponierte. Es war erst März, oder gar schon April? Ich wusste es nicht mehr so genau. Ich war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr da unten. Seit eineinhalb Jahren, um genau zu sein.
„Nati...", begann mein Dad. Doch ich unterbrach ihn.
„Verschwindet!", schrie ich schon fast gegen das Fenster.
Ich hörte wie Mum oder Atlanta erschrocken aufkeuchte, denn so hatte ich noch nie in meinem Leben mit ihnen gesprochen. Dann merkte ich, wie die Tür geöffnet wurde und acht Fusspaare den Raum verliessen.
Nun war ich alleine. - Wieder einmal. -
Ich setzte mich ans Klavier und begann zuerst etwas darauf herum zu klimpern. Dann fiel mir ein Lied von Xavier Naidoo ein. Ein deutscher Sänger, dessen Songs mich sehr berühren. Vor allem das besagte Lied: Dieser Weg.
Der Song passte einfach perfekt zu meinem Leben, deshalb hatte ich gelernt ihn auf dem Klavier zu spielen. Ob ich nach so einer langen Zeit noch singen konnte? Immerhin war es eineinhalb Jahre her-
Ach was! Das klappt schon!, unterbrach ich mich selber.
Dann begann ich zu singen.
Also ging ich diese Straße lang
und die Straße führte zu mir
Das Lied, das du am letzten Abend sangst
Spielte nun in mir
Noch ein paar Schritte
Und dann war ich da mit dem Schlüssel zu dieser Tür
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieser Leben bietet so viel mehr
Es war nur ein kleiner Augenblick
Einen Moment war ich nicht da
Danach ging ich einen kleinen Schritt
Und dann wurde es mir klar
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieser Leben bietet so viel mehr
Manche treten dich
Manche lieben dich
Manche geben sich für dich auf
Manche segnen dich
Setz dein Segel nicht,
Wenn der Wind das Meer aufbraust
Dieser Weg wird kein leichter sein
Dieser Weg wird steinig und schwer
Nicht mit vielen wirst du dir einig sein
Doch dieser Leben bietet so viel mehr.
Dieser Weg.
Es fühlte sich so toll an, wieder zu singen. Wieso hatte ich bloss damit aufgehört? Es war doch alles, was mich so lange am Leben hielt - zusammen mit meiner Familie, versteht sich -.
Ich beschloss meinen Weg von nun an mit gehobenem Kinn entlang zu gehen und mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Aus irgend einem Grund kam mir plötzlich der Film 'Rapunzel, neu verföhnt' in den Sinn und ich musste schmunzeln. Ich fühlte mich in der Tat wie Rapunzel, als sie zum ersten Mal ihren Turm verliess.
Sie sang da auch ein Lied dazu, ich konnte mich jedoch nicht genau erinnern, wie das Lied genau ging. Nur eine einzige Textzeile blieb in meinem Gedächtnis:
Jetzt fängt mein Leben an.