„Mensch, Nati! Eigentlich wusste ich das ja schon, aber ich sage es trotzdem noch einmal: Du hast es wirklich faustdick hinter den Ohren! Erster Schultag und schon legst du dich wieder mit Tessa an. Ich hoffe das wird nicht zur Gewohnheit, denn auch wenn du bis jetzt fast immer gewonnen hast, wird die b***h sich irgendeinmal nicht mehr so leicht aus der Bahn werfen lassen", spekulierte Roxie wie wild, während sie uns in Richtung Sekretariat folgte. Logan neben mir nickte bekräftigend. Ich zuckte bloss mit den Schultern. Solange Tessa sich im Recht sah, andere herunterzumachen, würde ich zu jeder Zeit wieder einschreiten.
„Hier wären wir", meinte ich lächelnd und drehte mich zu dem Mädchen, das vielleicht ein Jahr jünger war als ich.
„Danke. Und danke, dass du mir vorhin geholfen hast. Das war wirklich cool von dir!", antwortete sie schüchtern und grinste mich an. Ich zwinkerte ihr lachend zu. „Wenn du das Szenario noch einmal sehen willst: Spätestens morgen wirst du überall Videos davon finden."
Das war traurig, aber wahr.
Unsere Schule schien von solchen Vorfällen zu leben. Vor allem seit ich auf dieser Bildfläche aufgetreten war.
„Nati, wir müssen auch schon los. Logan und ich müssen in unsere Clubtreffen. Du weisst schon. Wegen den Vorbereitungen und wie viele Neue wir aufnehmen wollen", meinte Roxie und sah mich entschuldigend an.
„Hey! Geht nur!", lachte ich. „Wir sehen uns dann später."
Während meine beste Freundin schon lossprinten wollte, fragte Logan mich noch etwas besorgt, was ich in der Zwischenzeit täte. Also bitte. Hatte er das Gefühl, dass ich nicht mal für eine halbe Stunde alleine sein konnte?
Ich hob die Schultern. „Vermutlich schaue ich, ob eine der Musikräume offen ist."
Logan schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein und schloss sich seiner Freundin an.
Ich schaute ihnen nach, bis sie um die nächste Ecke verschwunden waren und ich mich selbst in Bewegung setzte und einen Stock nach unten schlenderte. Dort versuchte ich vergebens einen offenen Musikraum zu finden, um mir meine übrige Zeit etwas zu vertrödeln. Beim letzten Raum hielt ich inne, als ich nach dem Türgriff greifen wollte.
Die Tür war bloss angelehnt und aus dem Innern drangen Töne und singende Stimmen heraus. Ich zog die Tür einen kleinen Spalt weiter auf, sodass ich hineinlinsen konnte.
Im Musikzimmer befanden sich vier Mädchen und spielten gerade den Song 'Sweet Home Alabama'.
Big wheels keep on turning
Carry me home to see my kin
Singing songs about the Southland
I miss Alabamy once again
And I think its a sin, yes
Well I heard mister Young sing about her
Well, I heard ole Neil put her down
Well, I hope Neil Young will remember
A Southern man don't need him around anyhow
Sweet home Alabama
Where the skies are so blue
Sweet Home Alabama
Lord, I'm coming home to you
In Birmingham they love the governor
Now we all did what we could do
Now Watergate does not bother me
Does your conscience bother you?
Tell the truth
Die vier Mädchen, kannte ich nur flüchtig. Zwei von ihnen sind in meiner Paralellklasse, eine ist eine Klasse über mir und die vierte ist eine Klasse unter mir. Ich musste sagen, dass sie wirklich gut waren!
„Hat man dir nicht beigebracht, dass lauschen absolut unhöflich ist?"
Ich konnte gerade noch einen erschrocken Aufschrei unterdrücken, als ich mich umdrehte und aus Reflex dem Typen vor mir eine klatschte. Dieser rieb sich grummelnd die errötende Wange. „Aua!"
„Spinnst du? Erschreck mich doch nicht so!", fuhr ich ihn gereizt an. Den Typen hatte ich hier noch nie gesehen. Blond, graue Augen, gross, muskulös, gut aussehend...
'Natalia! Zügle deine Gedanken, du hast einen Freund! Ausserdem sieht Ethan 100-mal besser aus als dieser möchtegern Surferboy vor deiner Nase.'
Der Typ schien mich genau so in Augenschein zu nehmen wie ich ihn. Jedenfalls streckte er mir die Hand entgegen und sagte, ohne auf meine Bemerkung einzugehen:„Hallo. Ich bin Oliver."
Ich ignorierte ihn und schaute wieder den Mädchen zu.
Now Muscle Shoals has got the Swampers
And they've been known to pick a song or two
Lord they get me off so much
They pick me up when I'm feeling blue
Now how about you?
„Jemanden zu ignorieren ist auch nicht besonders freundlich."
„Es ist auch nicht besonders freundlich, jemanden fast zu Tode zu erschrecken. Was hättest du getan, wenn ich Herzprobleme gehabt hätte und jetzt hier an Ort und Stelle einen Herzinfarkt bekäme, huh?", fragte ich ihn, ohne den Blick von den Mädchen zu wenden.
„Mund-zu-Mund-Beatmung?"
Ich drehte mich zu dem nun dreckig grinsenden Typen um. Für einen Moment blinzelte ich verwirrt. Dieses Grinsen kam mir so bekannt und vertraut vor... Andererseit war ich mir sehr sicher, ihn hier noch nie zuvor gesehen gehabt zu haben. Ich hielt mir den Zeigefinger augenverdrehend an die Lippen. „Leute beim Lauschen zu stören ist ebenfalls unhöflich."
Ich drehte mich wieder zurück zur Tür und bemerkte wie sich der Surferboy dicht hinter mich stellte. „Dann gibst du also zu, dass du gelauscht hast?"
„Psst!"
Sweet home Alabama
Where the skies are so blue
Sweet Home Alabama
Lord, I'm coming home to you
„So. Sie sind fertig. Redest du jetzt mit mir?"
Ich drehte mich ein drittes Mal zu ihm um und fuhr ihn an. „Halt jetzt verdammt nochmal deine nervende Klappe! Du gehst mir gerade tierisch auf den Keks!"
Dieser Oliver grinste mich schräg an.
„Hallo? Ist da jemand?", hörte ich eine weibliche Stimme aus dem Musikzimmer fragen. Ich seufzte und öffnete die Tür. „Ähm... Ja, hallo! Es tut mir echt leid, ich wollte nicht lauschen..." - „Doch, und wie sie lauschen wollte. Ich habe sie lauschend vor der Tür gefunden und wollte fragen, weshalb sie lauscht, worauf sie gesagt hat, dass sie überhaupt nicht lauscht, aber etwas später hat sie dann zugegeben, dass sie gelau-" - „Halt die Klappe, du... du Klotzkopf! Das waren genug 'lauschen' in einer Predigt und wir haben es alle kapiert! Und jetzt verschwinde und lass mich in Frieden!" Ich schob Oliver, der sich nicht wirklich wehrte, zur Tür hinaus. Bevor ich die besagte Tür aber hätte zuknallen können, stellte er, dreist wie er scheinbar war, seinen Fuss dazwischen und blockte sie ab. „Sagst du mir jetzt noch, wer du bist?", fragte er und grinste mich wieder schief an, was mich für den Bruchteil einer Sekunde ein zweites Mal aus der Bahn warf. Dieses Grinsen... „ Na- Natalia", meinte ich knapp.
„Na- Natalia?", fragte er amüsiert nach, was mich wieder zur Weissglut brachte. „Natürlich einfach Natalia! Ohne das erste 'Na', du blöder Scherzkeks!"
Oliver sah mich etwas irritiert an. „Etwa Natalia Ocean?"
Ich verdrehte die Augen. „Ja, genau die!"
Dann kickte ich seinen Fuss aus dem Weg und schlug die Tür zu, ohne mich auch nur für eine Sekunde zu fragen, weshalb er meinen Nachnamen kannte. Schnell drehte ich mich zu den anderen um und sah sie entschuldigned an.
„Wer war das?", wollte das Mädchen, das ein Jahr unter mir war, wissen.
Ich zuckte die Achseln. „Irgendein Oliver. Ich habe ihn jedenfalls noch nie hier gesehen."
„Er war süss", meinte die Älteste, worauf die anderen kicherten.
Ich hatte keine l**t mit ihnen über das Aussehen eines unverschämten Typen zu reden (obwohl ich zugeben musste, dass er in der Tat süss war). „Wer seid ihr eigentlich und was macht ihr hier genau?", fragte ich also ehrlich interessiert.
Sie stellten sich vor als Harper, Madison, Chloe und Delancy.
Harper, die älteste von ihnen, war eine grosse, schlanke Blondine, hatte braune Augen und ich meinte einige Sommersprossen um ihre Nase auszumachen.
Das Mädchen, das eine Klasse unter mir war, stellte sich als Madison vor. Sie war etwas kleiner als ich, hatte einen kurvigen Körper, dunkle Augen und ihre schulterlangen Haare hatte sie sich dubkelblau gefärbt.
Chloe hatte ihre roten Haare zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden und ihre grünen Augen funkelten mich hinter ihrer Brille hervor an.
Genau wie meine es einmal waren, trug Delancy ihr braunes, kruseliges Haar bis zur Taille und ihre grünen Augen hat sie so geschminkt, dass sie scheinbar aus ihrem Kopf springen wollten.
„Was wir hier machen?", meinte Harper lachend. „Wir machen Musik natürlich! Hast du doch gehört, nehme ich an."
Ich nickte und unterdrückte dabei ein Augenverdrehen. „Ja schon klar, aber seid ihr eine Band oder sowas? Warum seid ihr nicht in einem Club? Wie dem Chor? Oder der Schülerband?"
Madison stellte ihren Bass, den sie noch immer in den Händen hielt, zurück auf seinen Halter und meinte angeekelt:„In den Chor bringst du uns nicht mit zehen Pferden und die Band hier ist uns zu trocken. Ausserdem sind die dort alle genauso eingebildet wie die Cheerleader, nur weil sie etwas können, was nicht jeder kann."
Delancy nickte zustimmend und Chloe fügte hinzu:„Natürlich wissen wir, dass nicht alle so sind, aber uns reicht es wenn wir auch nur jemanden von dieser Sorte in unserer Nähe haben. Eigentlich würden wir schon gerne in eine Band, aber wie gesagt passt uns diese hier in der Schule nicht und selber auf eigene Faust eine zu gründen ist schwierig und einen Raum zum Proben hätten wir dann immernoch nicht. Deshalb spielen wir einfach so oft zusammen wie nur möglich - nur aus Spass und um sich etwas abzulenken."
Ich legte den Kopf schief.
„Du weisst schon... Irgendwelche Typen knallen ein beliebiges Mädchen und wir machen eben Musik", erklärte mir Harper.
Das machte Sinn.
Obwohl ich diesen Vergleich jetzt nicht gebraucht hätte. Igitt!
Ich mochte diese Mädchen bereits jetzt. Schon nur die Tatsache, dass sie so eine grosse Vorliebe für Musik hatten, machte sie für mich sehr sympathisch. Ausserdem gefiel mir, was sie machten und ich beschloss, ihre Situation als eine Herausforderung zu sehen und ihnen zu helfen.
Es wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffen würde, dass sie öfters zusammen Musik machen konnten.
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„Nati? Ist bei dir alles in Ordnung?", fragte Ethan und riss mich so aus meinen Gedanken. Ich schaute hoch direkt in seine besorgten Augen. „Doch. Doch. Ich denke nur nach...", gab ich geistesabwesend zurück.
Trotz dem ganzen Lärm, der die Mittagspause mit sich brachte, drangen bloss dumpfe Geräusche zu mir durch. Wie konnte ich Harper, Delany, Madison und Chloe helfen? Ich hatte weder einen Raum, den sie benutzen konnten noch Instrumente. Ausserdem fehlte mir ebenfalls die Zeit dazu, irgendetwas zu organisieren.
Im Nachhinein fragte ich mich, weshalb ich ihnen überhaupt helfen wollte. Schliesslich hatten sie keine richtige Band und mir selber brachte es auch nicht viel. Ich fragte mich, ob ich mich jemandem beweisen wollte, doch auch dann stellte sich die Frage wem genau.