Kapital4

1107 Words
Kapitel 4 Selenes Sicht Seit dem Morgen war es still im Haus gewesen, zu still. Selbst die Wachen, die sonst vor meiner Tür Wache hielten, waren verschwunden. Und zum ersten Mal seit Damon mich eingesperrt hatte, erlaubte ich mir, am Fenster zu sitzen, ohne mich beobachtet zu fühlen. Ich hörte das leise Rascheln der Blätter draußen, den gleichmäßigen Rhythmus des Windes. Es hätte friedlich sein sollen, aber Frieden fiel mir nicht mehr so leicht. Ich ließ den Albtraum der vergangenen Nacht noch einmal Revue passieren – Calebs Stimme, die Lügen, der Schuss –, als ich die Haustür zuschlagen hörte. „Wo ist er?“, fragte eine Frauenstimme. Ich bemerkte ihren selbstsicheren, wütenden Ton. Ich hörte ihre Schritte durch den Flur hallen. Wer auch immer sie war, sie klang nicht wie jemand, der anklopfen oder um Erlaubnis bitten musste, bevor er Damons Haus betrat. Ich erstarrte, als ich ihre Schritte näher kommen hörte. Bevor ich mich überhaupt bewegen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Sie trat ein, als gehöre ihr der Laden. Sie war groß, wunderschön, und jede ihrer Bewegungen strahlte eine Aura der Macht aus. Ihr schwarzes Haar bildete einen scharfen Kontrast zu ihrer Haut, und ihre Kleidung war zwar abgetragen, aber dennoch elegant. Sie sah mich sofort an, ihre Augen verengten sich. „Und wer zum Teufel bist du?“, fragte sie, und ich antwortete nicht. Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Sie lachte ungläubig und angewidert. „Natürlich“, murmelte sie. „Natürlich hat er eine Crescent mit nach Hause gebracht.“ Das Wort Crescent klang wie ein Fluch. Langsam stand ich auf und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten. „Wer bist du?“ Ihr Blick verhärtete sich. „Lyra“, sagte sie. „Damons Partnerin, seine Luna.“ Mir schnürte es die Kehle zu, aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Luna?“, wiederholte ich leise. „Ja“, sagte sie und verschränkte die Arme. „Luna, der Titel gehört mir, nicht irgendeinem Crescent-Streuner, den er bemitleidet.“ Ich spürte, wie mein Puls schneller schlug, sagte aber nichts. Lyras Blick huschte durch den Raum und musterte die sauberen Laken, die gefaltete Kleidung, das unberührte Frühstückstablett auf dem Tisch. Ihr Gesichtsausdruck verzerrte sich. „Also das hast du getan, während wir für dieses Rudel gekämpft und geblutet haben“, sagte sie. „Du hast es dir in seinem Haus bequem gemacht und sein Essen gegessen. Was hast du ihm im Gegenzug gegeben?“ Ich knirschte mit den Zähnen. „Du weißt nicht, wovon du redest.“ „Oh, ich weiß genug“, fuhr sie mich an. „Damon bringt niemals Crescent-Wölfe in sein Haus. Entweder hast du ihn verhext, oder er hat den Verstand verloren.“ Ich wich einen Schritt zurück, aber sie folgte mir. Ihre Stimme wurde leiser, scharf und giftig. „Hör gut zu, Crescent. Du magst die Wachen getäuscht haben, mich aber nicht. Du gehörst nicht hierher. Du bist ein Verräter an deinem Volk und eine Schande für uns.“ „Ich habe nie darum gebeten, hier zu sein“, sagte ich leise. Sie lachte bitter auf. „Dann verschwinde sofort, bevor ich dich selbst hinauswerfe.“ Sie sagte es, und ich rührte mich nicht. Ihre Augen blitzten vor Wut. „Hast du mich nicht gehört?“ „Ich habe dich gehört“, sagte ich mit ruhiger Stimme. „Aber wenn Damon mich loswerden wollte, wäre ich schon tot.“ Sie zuckte zusammen, dann verhärtete sich ihr Gesichtsausdruck wieder. „Du glaubst, du kannst dich hinter seinem Namen verstecken?“ „Ich verstecke mich hinter niemandem“, erwiderte ich. Ihre Lippe verzog sich. „Du hältst dich wohl für etwas Besonderes, nicht wahr? Der verletzte kleine Wolf, den er vor der armen Selene Crescent gerettet hat – lass mich dir etwas sagen …“ Sie stieß mir mit dem Finger gegen die Brust. „Damon behält kaputte Dinge nicht lange. Wenn er mit dir fertig ist, wird er dich wegwerfen, genau wie alle anderen.“ Meine Hände zitterten, aber ich weigerte mich, wegzusehen. „Du weißt nichts über mich“, sagte ich leise. „Und das muss ich auch nicht“, zischte sie. „Du riechst nach Crescent-Blut, das reicht.“ Etwas in mir wand sich, vielleicht war es Wut, vielleicht Erschöpfung. Ich hatte es satt, für Dinge gehasst zu werden, die ich mir nicht ausgesucht hatte: meine Familie, in die ich hineingeboren wurde, den Mann, mit dem ich verpaart war, den Alpha, der mich nun gefangen hielt. „Glaubst du, nur weil du Damons Partnerin bist, hast du das Recht, alle wie Dreck zu behandeln?“, sagte ich mit lauter werdender Stimme. „Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.“ Lyra trat näher, ihr Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. „Mir ist egal, was du durchgemacht hast, du gehörst nicht hierher.“ Ihre Worte trafen mich hart, aber ich wich nicht zurück. „Ich bin nicht freiwillig hier“, fuhr ich sie an. „Glaubst du, ich will unter Leuten leben, die mich hassen? Glaubst du, ich habe darum gebeten, wie ein Haustier gehalten zu werden?“ „Dann lauf!“, zischte sie. „Geh zurück in deinen Halbmond-Dreck, wir brauchen deinesgleichen nicht in diesem Haus.“ Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich schluckte schwer und unterdrückte das Brennen in meinem Hals. „Du hast recht“, sagte ich. „Du brauchst mich nicht, und ich brauche dich ganz sicher nicht.“ Ihre Augen blitzten. „Pass auf, was du sagst.“ „Warum?“ Ich trat näher und erwiderte ihren Blick. „Angst, dein Alpha könnte die Wahrheit erfahren?“ Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich, ihre Wut geriet außer Kontrolle. „Glaubst du, du kannst so mit mir in seinem Haus reden?“ „Soweit ich weiß, gehört es dir nicht.“ Ich sagte es. Das war's. Ihre Hand schnellte vor und packte mein Handgelenk. Ihre Nägel gruben sich in meine Haut, so fest, dass es blutete. „Du kleine …“ Bevor sie ausreden konnte, ertönte ein tiefes Knurren, und wir beide erstarrten augenblicklich. Die Tür hinter ihr wurde aufgerissen, und Damon stand da. Seine Augen leuchteten schwach, sein Brustkorb hob und senkte sich einen Moment lang. Er sagte nichts; die Stimme, die aus ihm kam, klang eher nach Wolf als nach Mensch. „Lyra“, sagte er mit tiefer, bedrohlicher Stimme. Lyra ließ sofort mein Handgelenk los und wich einen Schritt zurück. „Damon, ich …“ „Lass es.“ Seine Stimme durchschnitt die Luft, scharf und endgültig.
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